Wieso die Steinzeitdiät nicht optimal ist
Macht
der Paleo-Trip wirklich Sinn?
07.03.2017 |
Vielgepriesen wird die Steinzeitdiät als die unseren
Genen am besten bekommende Diätform. Ihre Befürworter
haben die Argumente scheinbar auf ihrer Seite. Da der Wandel des
Lebensstils nach der Steizeit rascher erfolgte (vom Jagen und Sammeln
zu Ackerbau und Viehzucht), als dass die genetische Anpassung mittels
natürlicher Selektion hinterherkäme, liege hier ein
Defizit vor. Folgen seien u. a. die Zivilisationskrankheiten,
wie Arterienverfettung oder vorzeitige Arthrose, aufgrund
historisch
gesehen zu kalorienreicher Ernährung und Bewegungsmangel. Also
Marsch zurück, was den Lebensstil angeht? Dem kann
man angesichts der folgenden Einwände nur bedingt zustimmen.
1. Zweifelhafte Umsetzbarkeit der Theorie
Damit die Steinzeitdiät auch auf individueller Ebene Sinn
macht, ist zunächst die Kenntnis über die eigene
Abstammung notwendig. Während der zugrunde gelegten
Alt-Steinzeit (bzw. Paläolithikum, daher auch
„Paleo-Diät“) war die Menschheit
bereits geografisch zersplittert und
so kann man nicht von „der“ Steinzeitdiät
sprechen, sondern
von einer Vielzahl möglicher Varianten. Zudem fand die
agrikulturelle Revolution (Übergang zu Ackerbau und
Viehhaltung) in verschiedenen Erdteilen (auch innerhalb Europas) zu
weit auseinander liegenden Zeitpunkten statt. So gibt es heutzutage
Naturvölker die noch ursprünglich leben, die
europäischen Kelten waren
vor
ca. 5000 Jaren auch spät dran.
Selbst falls genaue Kenntnis über die eigene Abstammung
vorläge, ist dann immer noch recht unklar, was einst
konkret auf dem Speiseplan stand, und falls doch, sind die
Lebensmittel
von damals nicht dieselben wie heute, da diese auch der Evolution
unterliegen. Eine passgenaue Umsetzung ist damit durchaus in
Zweifel zu
ziehen. Immerhin handelt es sich hierbei um keine logische Widerlegung
der Steinzeitdiät, jedoch ist die Praktikabilität
entscheidend. Abhilfe können zukünftig vielleicht
Gentests zur Verträglichkeit von Lebensmitteln
verschaffen. Daraus erscheint der Rückschluss plausibel, dass
unverträgliche Lebensmittel in der eigenen Stammesgeschichte
nicht auf dem
Speiseplan standen.
2. Bereits erfolgte genetische Anpassung
Die Evolution ist Unkenrufen zum Trotz keine Schlafmütze.
Eindeutige genetische
Anpassungen, wie die Herausbildung des Milchzucker
spaltenden Enzyms Lactase, zeugen davon seit Ende der Steinzeit.
[1]
Es
ist
kein logischer Grund ersichtlich, eindeutig vertragene Lebensmittel zu
verbannen. Vielmehr wäre das ein Fehler, hielte man sich auf
diese Weise von manchen Super Foods fern. Ob der freilich an
Milchzucker arme
Kefir
oder
Ziegen-Hartkäse
von
natürlich gehaltenen Weidetieren – stets sind die
gesundheitlichen Nutzen bestechend und wissenschaftlich erwiesen.
3. Nicht alle Umweltänderungen sind
schädlich
Auch ohne notwendig werdende genetische Anpassung können sich
neue Lebensmittel als Super Foods entpuppen. So würden der den
Steinzeit-Menschen unbekannte Rotwein oder der ebenso fremde
Buchweizen
[2]
diesen wie bittere Medizin schmecken, aber in Maßen durchweg
nützen. Im Wort Medizin liegt gerade der springende Punkt.
Grund ist, dass natürliche Selektion keine Einhahnstrasse der
Negativauslese ist, sondern das vorhandene Genom sich
zufällig
als besonders geeignet für neue Bedingungen herausstellen
kann.
[3] Daraufhin steigen die
Fortpflanzungschancen und die
natürliche Selektion nimmt nunmehr im Sinne einer
Positivauslese ihren Gang. Diese Zufälle sind
zugeggebenermaßen eher die Ausnahme.
4. Genetische Anpassung erhöht nur die
evolutionäre „Fitness“
Der Evolutionslehre nach ist die Steinzeitdiät von vornhinein
suboptimal und nicht etwa zufälligerweise. Evolution
mündet
in der Selektion „fitter“ Gene, welche für
die Heranreifung, den
Paarungstrieb sowie die Brutpflege sorgen, womit der Erhalt einer
Spezies gewahrt wird. Wie rasch und zahlreich sich die Fortpflanzung
gestaltet, ist durch die Umweltrisiken geschuldete
Dezimierungsrate (tödliche
Unglücksfälle)
vorgeben, die es zu kompensieren gilt. Jedenfalls erlaubt das
Zusammenspiel zwischen dem Selektionsfaktor Nahrung mit den hierdurch
selektierten Genen das Erreichen des für den Arterhalt
benötigten Alters.
Spätere Vitalität bringt nun angesichts der o. g. Dezimierung
irgendwann keine Selektionsvorteile mehr. Daher werden
Genvarianten mit negativen Effekten, die erst spät im Leben
manifest werden, nicht ausgesiebt und umgekehrt dauerhaft
nützende nicht präferiert.
[4]
Zum anderen erfolgen
Anpassungen an neue Umweltbedingungen, wie die agrikulturelle
Diät, rasch bis zum Minimum der arterhaltenden
Fortpflanzungsphase und später nur langsam,
[5]
sodass
bloß
hier
die
Menschheit noch eher in den Anfängen steckt.
Somit fällt die agrikulturelle Diät schon in
früheren Lebensjahren vom Tisch. Die erstbeste Alternative ist
die steinzeitkonforme Diät. Diese lässt aber
akkumulierende Defizite zu. Hier
helfen passgenaue Strategien. Denkbar ist z. B. das Weglassen
aphrodisierender Komponenten, die zwar den
Sexualtrieb stärken, aber Nebeneffekte wie etwa
Bluthochdruck haben.
5. Steinzeitdiät ab dem mittleren Alter
definitiv eine sinnvolle Ausgangsbasis
Sicherlich ist die Steinzeitdiät im mittleren Alter
der beste Ankerpunkt, da das, was einen über längere
Zeit
überleben lässt, nicht irgendwann in
Gänze schaden kann. Und so, wie es die sog. protagonistisch
pleiotropen (vielfältig nützenden)
Gene gibt, die im Gegensatz zu den antagonistischen
(gegenläufig nützenden) auf Dauer keinen Schaden
stiften, kann analog von
„protagonistisch
pleiotropen“
Nahrungsmitteln ausgegangen werden. Deren Verzicht
durch Fallenlassen der Steinzeitdiät wäre
töricht, im Gegensatz zu
den unter Punkt 4. genannten, die als
„antagonistisch
pleiotrope“
Nahrungsmittel zu betiteln und aus der
Steinzeitdiät evtl. schon in frühen Lebensjahren zu
eliminieren wären.
Angesichts der tendenziell eher einsetzenden Schädlichkeit der
agrikulturellen Diät erscheint die Steinzeitdiät
ebenso in einem helleren Lichte. Ob eine prinzipiell denkbare
Besserung der speziell durch die
agrikulturelle Diät spätestens
ab ca. 35-40
Lebensjahren zu erwartenden Unverträglichkeiten
über
dieses Alter hinaus
eintritt, muss die Evolution noch erweisen.
Quintessenz
Ein störrisches Haften an der Steinzeitdiät
überzeugt
nur, wenn man nicht bereit ist, die Evolutionstheorie zu Ende zu
denken. So sprechen nebst der Zweifel zur theorietreuen
Umsetzbarkeit vor allem evolutionäre Mechanismen, die eine
abweichende Optimierung nahelegen, dagegen.
Die Steinzeitdiät
ist dennoch ein guter Ausgangspunkt. Das Optimum
versprechen
Verträglichkeitstests, die spätestens nach Abschluss
der
effektiven
Fortpflanzungsphase einer Spezies (bei Menschen ca. das 40.
Lebensjahr), überprüft werden sollten.
Sodann werden die Defizite der evolvierten Nahrung-Gene-Kombination
manifest, weil dezimierungsbedingt dagegen in der Steinzeit keine
Selektion stattfand. Zuvor aber
auch, insofern
Anpassungen wie im Hinblick auf die agrikulturelle Diät
zunächst nur den Anfang der Fortpfanzungsphase erreichen.
Quellenangaben
[1] Zu weiteren Anpassungen
siehe:
Iain Mathieson u. a., Eight thousand years
of natural selection
in Europe, Pre-print auf
biorxiv.org,
März 2015
[2] Buchweizen ist z. B.
ausgeprägt antientzündlich:
Ishii S. u. a.,
Anti-inflammatory effect of buckwheat sprouts in
lipopolysaccharide-activated human colon cancer cells and mice., Biosci
Biotechnol Biochem. 2008 Dec;72(12):3148-57.
Online
[3] Bsplw. leben in
atmosphärischem Alkohol gehaltene Fliegen länger,
was keine natürliche Umgebung ihrer Vorfahren war,
vgl.
Starmer W. u. a., Extension of
longevity in Drosophila
mojavensis by
environmental ethanol, Proc Natl Acad Sci USA. 1977 Jan; 74(1):
387 ff.
[4] Nachteilig sind z. B.
Gene, die
für
hohen Spiegel an Sexualhormonen sorgen, der Fertilität auf
Kosten später erhöhten Krebsrisikos bringt. Daneben
auch Gendefekte, die sich erst spät im Leben kritisch
auswirken. Eventuell nützlich wären effektive
Reparaturgene gegen Mutationen.
[5] Vgl. Vortrag von
Michael R. Rose auf der Cryonics - Alcor 40 Conference:
Video;
ebenso:
Rutledge/Rose, An Evolutionary Analysis of
Healthspan Extension Using Diet (...), 2015